Freitag, 20. April 2012
Seine Hände
Zitternde Hände, treue Diener, ewige Untergebene des unschlüssigen Herzens. Schimmernd von kaltem Schweiß suchen sie in der warmen Hosentasche des Trunkenen nach dem abgegriffenen kleinen Zettel mit den paar schwarzen Zeilen darauf. Er steht allein auf einer Brücke in Leipzig. Wütend versucht er seine Liebe zu fokussieren und ihr gerade ins Gesicht zu sagen sie solle verschwinden, nur kann er sie nicht finden. Sie ist diffus und überall. Vielleicht nach morgen oder gestern gegangen, vielleicht bei ihr. Ihm ist schlecht. Die Welt dreht sich unangenehm. Irgendwo in der Ferne seine Freunde. Er findet den Ohrring in seiner Tasche. „Gut“, denkt er, „gut, dann der Ohrring. Eigentlich fast noch besser!“, und wirft ihn von der Brücke in die einsame nachtkalte Dunkelheit. „Wären wir wenigstens zu zweit gewesen..“, denkt der Ohrring betrübt und ergibt sich mit zarter Traurigkeit seinem Schicksal. Eine Sekunde reichte dem kleinen Funkelchen um zu begreifen, dass er so lange aus falscher Liebe getragen wurde. Furchtbar fühlte er sich, aber auch furchtbar genug um sich wohlwollend der Einsamkeit zu ergeben. So fällt er und verschwindet aus dem Leben des trunkenen Mannes. Ihm ist kalt. Er schaut kurz dem Schmuck hinterher und seine Gedanken schweifen ab. Viele Menschen. Alkohol. Buntes Licht. Hitze. Nähe. Ein Herz auf der Hand, daneben geschrieben: One Love! Märchenhafte, glitzernde Freude, eine fremde Stadt und seine Leute. Ja, seine Leute! Er fühlt sich einen Moment wohl. Dann denkt er an sie und sein großes Herz wird schwer. Achtsam pumpt es den rauschenden Abend durch seine Adern. Es fühlt sich schwer und doch ist es überzeugt von der Richtigkeit seines Vorhabens. Ihm ist bewusst, dass in den Zeilen, die die belasteten, rauen Hände in der Hosentasche suchen sollen, alles steht, wofür es schlägt. Dieses Herz ist eines von jenen, die romantisch überzeugt davon sind, dass sie auch in einem hirntoten Körper weiterschlagen würden. Aufrecht und immer freundlich ist es. Es kann nicht sehen, wenn Menschen traurig sind und würde den schweren Körper des Trunkenen sofort antreiben in den Kampf zu ziehen, wenn es nur irgendwo das tiefe Gute in diesem Mädchen sehen würde. „Findet es!“, schlägt es in die schwitzenden, kalten Hände, „findet es und macht uns frei davon! Findet es!“.
Die einfachen Hände tun mit Bitterkeit, was ihnen gesagt wird. Sie wollen sie berühren, wieder und wieder. Wollen ihr gut tun, wollen ihre zarte Haut fühlen und die Nase will sie riechen. Seine Haut wacht mit einem Wintermorgenschauer auf und bekundet: „Ich will bei ihr sein. Ich will sie wiedersehen und ich will, dass sie mich liebt.“ „Finde es!“, sagt das Herz schwermütig, „ihr müsst es finden!“ Erschauernd fühlen Haut und Hände das Zettelchen und tragen es an die kühle Nachtluft.

Meine Liebe.

In den Worten: die junge, tiefe Liebe eines Menschen zu einem anderen. In seinem Herzen die würgende, tiefdunkle Einsicht, dass es zu oft zu sehr wehgetan hat. Traurig schaut es in die letzten Wochen. Schimmer über einem Mondgesicht. Sanfte Worte und gutes Essen. Spaß und Nähe. Und in der Schönheit die Verletzung, darin der Drang zum Ende. In seinen Händen der mühsam-hoffnungslose Kampf gegen das Kommende, der Wunsch nach Verzeihen und zärtlicher Liebe. Heute, heute sein lassen und gestern, gestern. „Sag nur, verstehst du sie denn gar?“, fragt jemand anders, jemand, der an der Tiefe der Sache durchaus maßgeblich beteiligt war. „Denkst du, du urteilst richtig mein liebes Herzchen?“ „Mit dir rede ich gar nicht.“, antwortet schnippisch das Herz und schaut erschrocken nach unten. Mächtig ist er und mischt er sich ein, so ist es wahrscheinlich, dass Herz und Hirn nicht gewinnen können und die Entscheidung des Mannes zu seinen Gunsten verläuft. „Mach dir keine Mühe, es gibt so viele!“, ruft euphorisch über das ihm bestechend erscheinende Argument das große Herz, das immer weiter den kitzelig, kühlen Rausch durch des Trunkenen Adern pumpt. „Du wirst es nie lernen, mein Herz, nicht wahr? Auch ich kenne Gefühle und Unterschiede! Auch ich weiß von hell und dunkel! Und will ich dein Blut, bekommen ich es.“ Sicherlich wollte das schöne Herzchen, es liebte sie ja so, nichts Böses. Es wollte nur nutzen, dass das Zentrum im Rausch war, dass schlecht integriert werden konnte. Es wollte nutzen, dass alle miteinander reden konnten. Es wollte endlich tun, wovon es so lange träumte und was dem Mann, in dem es schlägt so viele so seltsame, schwermütige und trübe Empfindungen gab: sich frei machen von einer gescheiterten Liebe. Es hatte die Macht und hier war die Möglichkeit es zu verwirklichen und auch der Mächtige war schwach in der Trunkenheit.
„Wirf!“, schreit schrill das Herz, so dass Haut, Haare, Nase und Bauch erblassen.
Zitternde Hände, treue Diener, ewige Untergebene des unschlüssigen Herzens. Lieb sind sie und weinen, beugen sich über das Brückengeländer und halten die Worte fest.
„Wirf!“ Langsam entgleitet den Guten das Zettelchen, die Liebe und der Glaube, das Ewige.

Wie soll ich es sagen. Es ist furchtbar traurig. Sie sahen das Mädchen wieder und eine Weile schauten Haut, Haare, Nase und Bauch vorwurfsvoll auf das mutige Herz. Es schämte sich, als wenn die Eltern einen Abend aus waren und es in Leichtsinn das zu Hause verwüstet hätte. Das Hirn wusste nichts von der Debatte, es denkt bist heute, dass es einfach sagte: Wirf!, und der Zettel glitt aus den fügsamen Händen. Wenig wusste es, das Hirn.
Die Hände aber, können ihr bis heute nicht in die Augen schauen. Ihr Herz wunderte sich sehr über die plötzliche Schüchternheit seiner Hände, aber dachte an ein Missverständnis, an eine einfache Verstimmung.
Einen nebligen Karfreitag aber, nahmen seine Hände ihre und erzählten in hingebungsvoller Ehrlichkeit die Geschichte dieser Nacht, dass sie schwach seien, sie so sehr liebten aber das nichts bedeute, weil sie niemals gewinnen könnten. Nun schreiben wir, ihre kleinen Hände, dies hier nieder und sind dankbar für die Ehrlichkeit unserer lieben Freunde und sehen in der Gram der beiden Schönen, das Stärkste und Wertvollste, was der ewig Einsame, der sie durch den Tag trägt, jemals haben kann.