Erwischt
Wir haben uns hier versammelt um den Abschied zu feiern. Jetzt stehe ich hier... ganz allein... und irgendwie gefällt es mir. Sicherlich, es hätte besser laufen können, aber nun steh ich hier und das ist gut so. Ich denke so sollten wir es nehmen. Wie es kommt eben. Ihr sitzt dort... ich stehe hier und nun zum Anlass: wir wollen uns verabschieden. Aber bevor wir zusammen zu singen anfangen, möchte ich noch eine kleine Geschichte erzählen, die uns vielleicht ein wenig einstimmt auf das was kommt, uns ein wenig die Augen, das Herz öffnet und die vielleicht macht, dass wir besser singen... später. So aus voller Seele eben.
Oh! Ich habe eine Engelseele gesehen. Ja und als ich sie sah, so rein, so unschuldig, Sternenglanz und Zauberkraft! , schrecklich, alles in einem.. da, als ich sie sah also, da wusste ich sofort was er meinte, der Dostojewski: Engelseele. Das hat er immer gesagt, besser: geschrieben. Geschrieben hat er es: Engelseele. Wie schön das von der Zunge geht: Eengööölseehlä. Manches kurz, manches lang. Sie war es. Ich fuhr Richtung Wien. Hehe. Das sag ich immer so. Eigentlich fuhr ich vom Alex Richtung Sonnenallee. Jaaa, das wisst ihr alle, wa? Sonnenallee. Ich bin ja gar nicht so alt. Letztendlich ging es auch gar nicht um diese Frau. Ich versuche strukturiert zu erzählen, damit ihr alle versteht wovon ich rede. Mir wurde gesagt man müsse strukturiert reden, sonst werden die anderen durcheinander. Die Frau, die Engelseele, so schön, die ist gestorben.. dann später.. und ich habe ihre Hand gehalten. Am Krankenbett. Ich habe gar nicht verstanden woran sie gestorben ist. Irgendeine Art von Keim, aber ist ja auch egal, denn sie ist gestorben und nur darum ging es ja. Wäre sie nicht gestorben, wäre es vielleicht auch interessant gewesen, warum sie nicht gestorben wäre und an welchen Keim sie nicht gestorben wäre. Die Frau ist gestorben aber eigentlich will ich auf etwas anderes hinaus. Vielleicht auch nicht. Aber sie, sie hieß Nadja übrigens, sie hatte einen Hund. Immer bei sich. Und solange sie lebte, glaubte ich, dass sie den Hund liebte. Es war eine Hündin. Sie hieß Mia. Mia die kleine Hündin. Oh sie war so lieb und ich könnte es keinem vergönnen sie zu lieben. Zuerst aber, ist mir das gar nicht aufgefallen. Mir ist nicht aufgefallen, wie lieb Mia ist und wie unvorstellbar selig. Ich sah nur Nadja und dachte sie liebt Mia aber es sollte sich herausstellen, dass Nadja niemanden liebt und Mia alle. Ich habe an dem Tag in der Bahn gesessen ohne Fahrschein und wurde auch erwischt. Der Kontrolleur war furchtbar wütend, als ich ihn bemerkte. Er behauptete er würde schon stundenlang auf mich einreden, was ja völliger Quatsch war, denn ich fuhr erst zehn Minuten Bahn. Ich habe das Geld bis heute nicht bezahlt, aber irgendwann zahle ich es. Ich sah nur Nadja an. Blonde Locken. Einen dicken Pelzmantel hatte sie an und eine braune Mütze. Ich denke, dass der Pelz gefälscht war, sie hatte ja gar kein Geld. Nur viele Freunde. Aber mittlerweile bezweifle ich auch das. Ich habe nämlich gelernt, dass Worte wichtig sind und dass es gar nicht mal so egal ist, ob man Freund sagt oder nicht. Schau mal du, bist du mein Freund? Traust du dich jetzt nicht ja.... , oder nicht nein zu sagen? Das ist auch nicht unwichtig. Ja ich glaube, wie wäre es bei mir? Ich würde mich nicht trauen nein zu sagen. Und seht ihr, das ist der Unterschied: Nadja, die hätte Angst gehabt ja zu sagen. Und Mia, hätte Angst gehabt nein zu sagen. Aber auch Mia hätte gewusst, dass man manchmal nein sagen muss. Einfach um die Worte zu beschützen. Wenn sie nicht mehr da sind, dann passieren furchtbare Kriege. Das habe ich gelernt und das hat auch viel mit Nadjas Tod zu tun, denn ich habe nicht anders können, als nachzudenken, als sie fort war. Für immer. Wir waren im Krankenhaus und irgendwie war klar, dass es nicht mehr lange dauert. Sie war dünn, ganz furchtbar blass und hatte niemanden. Ich war da. Mia lag am Bettende. Sie war weiß. Und hatte Locken und sagte kein Wort. Nadja hat ganz schwer geatmet und ihre Hände, sie hielt meine, ja sie meine ich nicht ihre, das ist auch wichtig, ja und ihre Hände: die waren furchterregend kalt. So als wären sie schon weg. So eiskalt, wie tot. Wenn etwas tot ist wird es ausgefressen. Aber Mia zum Beispiel, die wird nicht aufgefressen. Die wird wunderbar schweben. Und ganz laut lachen. Endlich, wo sie doch so lange nichts gesagt hat. Dann, als Nadjas Tod immer näher kam (ich saß die ganze Zeit dort und wartete darauf), hatte sie Angst denke ich. Es tat mir leid irgendwie. Ich möchte ja nicht, dass jemand stirbt, der nicht sterben will. Oh je, ich habe mich schrecklich gefühlt und dann musste ich weinen. In einem Ausmaß, dass sich das hier vielleicht nicht einmal jeder vorstellen kann.
Einmal hab ich Nadja zum Kuchen essen eingeladen. Später erzählte sie mir, dass sie es komisch fand, dass ich nur ein Stück Kuchen holte und keinen Kaffee und noch nicht einmal zwei Stücken Kuchen. Sie hat gesagt: nicht einmal. Das wiederum, fand ich komisch. Manchmal hatte ich das Gefühl irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ich meine, wir haben uns schon oft gesehen. Ich glaube im Endeffekt hat sie mich am meisten gesehen in ihrem letzten Lebensmonat. Sie hat mich nicht oft gesehen, aber sie hat meist Leute auch nicht oft nochmal getroffen. Also selten nochmal getroffen. Mich aber, hat sie öfters nochmal getroffen und das heißt sie hat wohl mit mir am meisten Zeit verbracht seit dem Tag in der Bahn, an dem ich beim Fahren ohne Ticket erwischt wurde. Nadja hatte furchtbar viele Parfums.
Als ich da saß und weinte an dem letzten Tag, an dem Nadja lebte (das war sogar die letzte Minute), da schaut sie mich an und lächelt und ich denke: gut, sie ist vielleicht doch nicht so traurig, dass sie sterben muss. Sie schaut mich an und lächelt und sagt: „na wenigstens einer, der heult, weil ich sterben muss.“ Und da wurde mir etwas klar: Nadja hatte gar keine Angst zu sterben. Sie hatte sich selbst nicht gefunden. Sie hatte nie verstanden, was Mia verstanden hatte. Nadja hatte nie geliebt. Und da starb sie dann. Und Mia gleich mit. Lag am Bettende und war tot. Natürlich weiß niemand, wann Mia gestorben ist. Sie war aber tot, als Nadja tot war. Und das war wirklich, wirklich traurig. Warum nur musste Mia Nadja lieben. Hätte sie mich geliebt, sie wäre noch am Leben. Ist das nicht furchtbar traurig. Wenn man wirklich lieben kann, zärtlich und rein, vielleicht hängt man dann gar nicht so am Leben. Vielleicht, wenn man feststellt, dass man liebt, vielleicht stirbt man dann ja, weil was soll man dann noch mit Kaffee und Kuchen anfangen. Eine seltsame Geschichte. Aber es kam noch etwas seltsamer. Ich sollte Nadjas Sachen aus ihrer Wohnung abholen, dabei war ich ja noch niemals zuvor dort gewesen. Und außerdem kannte ich sie nur einen Monat. Hatte sie denn keinen Vater und keine Mutter gehabt? Oma oder Geschwister? So was ist doch immer irgendwo aufgeschrieben. Mein Boss wusste auch gleich, dass mein Vater im Knast ist. Ich bin also in ihre Wohnung gegangen und dort hab ich alles stehen lassen außer zwei Kleinigkeiten, die einfach zu wundervoll waren. Vor dem Fenster, kaum zu sehen, stand ein unglaublich kleiner blauer Spielautomat. So toll! Den hab ich mitgenommen. Die Wohnung war im Übrigen sehr klein, hat stark nach Parfum gerochen und war daneben voller Kram. Alles Mögliche. Sofas. Fernseher. Viel zu viele Tassen und Teller. Tische aufeinander. Nur ein Bett aber mit viel zu vielen Decken, aber sehr bunt. Man konnte kaum den Boden sehen, der sehr schön war, nämlich aus altem Holz. Und dann hab ich noch etwas mitgenommen: ein kleines Kissen mit einem bestimmten Motiv. Da war eine Frau, sehr schön und ich glaube auch sexy in, ich denke, einem kurzen Lederkleid in dieser Farbe, die die schönen Ozeane haben. Oder Meere, Ich denke ihr wisst schon. Zwischen himmelblau und ozeangrün. Und die hatte so ein Mützchen auf (hat sie übrigens immer noch, denn das Kissen sitzt auf einem meiner zwei Küchenstühle, seitdem ich es mitgenommen habe) wie die Kellnerinnen in den 50er Jahre in so Rockcafe´s. So sah das Minikleid auch aus und ein bisschen weiß war dran. Sie steht vor einem Delorean. Und das fand ich ziemlich cool. So cool eben, dass ich das Kissen mitgenommen hab. Und sie schaut so nett.
Ich bin fertig mit erzählen. Und nun wisst ihr sicherlich auch, wovon wir uns heute verabschieden und vielleicht auch was wir in etwa singen wollen.
Wir sollen nicht erwarten und fordern, sondern leben und lieben. Also verabschieden wir uns, von dem was war, wie wir waren und deshalb sein sollen in der Zeit, die kommt. Ich meine, ich weiß nicht ob ihr versteht, aber Nadja hat einfach alles falsch gemacht glaube ich. Sonst hätte sie doch nicht so viele Sachen in ihrer Wohnung gehabt. Mia hatte immer nur sich selbst dabei. Wir Mia müssten wir sein und nun verabschieden wir uns davon, dass wir irgendetwas werden müssen, denn alles was wirklich da sein kann, und auch irgendwie bewiesen ist und jeder verstehen kann ist jetzt. Hehe. Egal, wir singen jetzt. Also ich zumindest und wenn ihr verstanden habt, was ich verstanden habt, ihr wohl auch.
Froh zu sein bedarf es wenig..
chaoskruemel am 13. März 12
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