Eine andere Welt.
Die Gegenwart ist manchmal so unglaublich schwer zu fassen. Nicht nur ein Moment an sich, der so vielschichtig sein kann, ein Gefühl, dass in seiner Essenz einfach nicht zu erklären ist, nein auch kleine, für uns selbstverständliche Dinge und Wege sind in vielen Fällen unergründlich. Warum denke ich an das, an das ich denke? Warum liebe ich diesen oder jenen Menschen? Warum bin ich jetzt melancholisch oder warum bin ich es nicht, was ist normal und gibt es normal? Welche von den Dingen, in die wir hineingewachsen sind, die unsere Existenz und unsere Identität, unser Selbstverständnis ausmachen, sind vielleicht gar nicht so durchdacht und festgelegt wie sie scheinen und könnten sehr viel optimaler für den jeweiligen Menschen, für die jeweilige Liebe beschaffen sein? Wo liegt unsere Freiheit, wo unsere Macht und wie viel davon haben wir? Das menschliche Gehirn eröffnet uns als das selbstreferentielle System, das es ist, in jedem Fall Möglichkeiten, die vielleicht gar nicht so einfach greifbar sind. Wir können unsere Stellung in einem bestimmten System bestimmen bzw. einordnen und noch mehr: unser Gehirn als eigenes System, kann sich selbst als dieses System analysieren und bewerten. Unser intellektueller Blick reicht also über die Grenzen der Strukturen in denen wir uns bewegen, ja, die wir sind! In der Möglichkeit dieses geistigen Blickwinkels liegen unendliche Freiheit und Macht über unser eigenes Dasein: in ihm liegt Selbstbestimmtheit.
Also, wie kam es zum Beispiel zu einer bestimmten Situation in dem Leben eines speziellen Menschen? Die Antwort ist nicht nur manches Mal, sondern in sehr vielen Fällen unmöglich. Viel zu komplex sind die Menschen und die Welt. Viel zu sehr scheint alles voneinander abzuhängen. Und viel zu selten versucht man wirklich zu verstehen warum man handelt, wie man handelt und wie es kommt, dass eine bestimmte Situation genau so zustande gekommen ist, wie sie eben ist. Nun ist es vielleicht unmöglich, aber sehr reizvoll zu versuchen genau dies zu ergründen. Es ist einfach selbstverständlich, dass man handelt, es erscheint vielen Menschen sogar unmöglich nicht zu handeln, sich an keinen Charakter gebunden zu fühlen. Es kommt ihnen nicht in den Kopf eventuell etwas zu sein, was nicht an die eigene Physiologie gebunden ist, nicht einer, auf früheren Ereignissen basierenden, Logik anschließt. Ich zum Beispiel denke gerade an „Fänger im Roggen“ von Salinger. Einfach so, keine Ahnung warum. Die meisten würden nun sagen ich denke an das Buch, weil ein bestimmter Zusammenhang, wahrscheinlich eine Gedankenstruktur, die zu diesem Text geführt hat, mich an einen ähnlichen, wie auch immer gearteten Zusammenhang in Salingers Werk erinnert hat. Was, wenn das nicht wahr ist. Wenn etwas Ganzheitliches, etwas, wofür wir keine Worte haben, was man wissen muss und soviel möglich macht, eine Liebe zu genau diesem Moment mit einem bestimmten Gefühl, eine Freiheit (!), mich zu einer nur einen Augenblick bestehenden Existenz geführt hat. Was, wenn wir nicht an Früheres gebunden sind, wenn wir jeden Tag neu sein können? Wenn wir jeden Moment eine Einheit mit jemandem sein können, ohne eine Vergangenheit und eine Zukunft, dann können wir es ganz sein. Ohne Ballast, ohne Forderungen, ohne Schuld, ohne das, was ein Menschenleben nach unserem westlichen Verständnis ausmacht: eine Chronik, eine Logik, ein Sinn. Ist es nicht anmaßend einem Körper einen Sinn aufhalsen zu wollen, wer sagt, dass es selbstverständlich ist und vor allem wahr? Vielleicht ist unser Körper eine zärtliche, zerbrechliche Chance Weltliches zu erfahren, aber keines Falles eine Forderung an uns, ein Mittel zum Sinn. Wir könnten so viel freier sein, soviel weniger wollen. So viele Probleme, die für viele im Gedankenexperiment entstehen würden, wenn alle Menschen das beschriebene Weltbild hätten, (eben keines!), würden gar nicht da sein. Es gäbe keine Probleme ohne Vergangenheit! Die Welt wäre ein einziges Verzeihen, Vergessen, Lieben und Leben. Es würde keinen Sinn machen zu fordern, zu töten, zu betrügen, zu beschuldigen. Es würde keinen Sinn und keine Suche danach geben. Wir wären unabhängig, unser Geist, eins mit dem Leben, mit der Welt, mit der Schönheit, mit der Traurigkeit eines Augenblickes. Jeden Moment hätte die Liebe ein neues zu Hause und eine neue Chance und vielleicht würde sie länger an einem Ort, in einer Verbindung, verweilen und vielleicht würde sie gehen, oder weiterreisen.

Viel zu oft machen wir Fehler, die aus Angst geschehen. Angst, die aus der Vergangenheit resultiert. Wir tun Unrecht, von dem wir uns lösen sollten. Eine Vergangenheit, die nicht ihre dunklen Finger in die Gegenwart strecken, sie nicht mehr schwarz färben, nicht mehr mit Sorgen und Bedenken erfüllen soll. Vielleicht sollten wir den Augenblick nehmen wie er ist, uns auf ihn einlassen, ihn ein- und eben auch wieder ausatmen, loslassen. Was vorbei ist, ist vorbei. Ich für meinen Teil, möchte die Gegenwart unabhängig von der Zukunft machen, mich unabhängig machen von etwas, was sich durch mein ganzen Leben gezogen hat, etwas wie Charakter. Ich möchte frei sein und meiner Liebe und meinen Augen die Möglichkeit geben ebenso frei zu sein, sich niederzulassen, wo sie mögen. Ganz wonach ihnen der Sinn steht. Jeden Moment, wie der Wind weht. Ich möchte in einer Welt leben, in der Opportunismus unmöglich ist, in der Angst und Besitz keinen Sinn macht. Wie gut würde es der Welt gehen, wie friedlich und gutmütig wäre alles. Es ist schwer vorstellbar, aber es ist eine Möglichkeit.