Bühnenbretter
Wenn das Knarren der Bühnenbretter erklingt, kann das ganz unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen, kann es eine verschmitzte Szene sein, mit Stille hinterlegt, die die Zuschauer zum Schmunzeln bringt. Zum anderen, und das stellt sich meist keiner darunter vor, kann es sein, dass ein Schauspieler nach einer famosen Premiere allein über die schummrige Bühne wandelt. Nachdenkt über sich und das Stück. Das Theater und sein Leben. Vielleicht das erste Mal. Nehmen wir an es wäre das erste Mal.
Was würde er denken, der erfolgreiche Schauspieler, könnte ihm etwas fehlen, was könnte ihm fehlen? Wie könnte das Leben so eines Menschen aussehen?
Zuerst einmal würde das Feuer nachbrennen. Auch wenn unser Schauspieler, unser Entführer in eine andere Welt, allein in einem riesigen menschenleeren, dunklen Raum auf und ab geht, brennt in ihm die Aufregung der ersten, gelungenen Aufführung nach. Ihm ist hell, ihm ist gut. Ein leichtes Grinsen zeichnet sich auf seinem Gesicht. Er denkt an eine bestimmte Szene, die ihm besonders gut gelungen ist.

Er ist einer der meist geschätzten deutschen Schauspieler seiner Generation und alles war ein bisschen Glück und sein Verdienst. Und genau in diesem Moment passiert, was an irgendeinem Punkt immer passiert: er kommt in die Welt. Sein Blick ist nicht innen, sonder nach außen gewandt. Es ist dunkel. Menschenleer. Still. Sogar wenn er steht, knarren die Bretter, als wollen sie ihm sanft, fast zärtlich auf die Schulter klopfen und sagen, egal was für Gedanken kommen mögen, es ist gut so und wir sind da, wir sind sanft. Er hätte seinen Stolz und sein Glücksgefühl ewig halten können, wenn er nur nicht gesehen hätte. Ruhig. So ruhig. Und da war sie wieder. Die Entscheidung vor vielen Jahren. Die, die ihn zu so einem guten Künstler gemacht hatte. Zu einem Vorbild und einem Helfer. Ein Helfer, der Niemandem die Hand geben konnte, sondern nur eine Illusion. Er richtete sich auf und ging ein paar schnelle Schritte Richtung Bühnenausgang. Was würde er jetzt tun? Er würde Sekt trinken, vielleicht Bier oder Schnaps. Er würde trinken. Er würde den Blick mit Gewalt nach innen richten. Wann hatte er sich das letzte Mal dem Blick nach außen gestellt, dem Menschsein, der wahren Welt, der Einsamkeit. Da war sie wieder. „Menschsein ist Einsamsein“. War er nicht mal ein junger Mann gewesen, der sich Schmerz stellte, der Erinnerungen und Einsamkeit fokussierte, bis sie sich in einer Gesamtheit von menschlichem Sein auflösten? Hatte es nicht funktioniert? Wo war er jetzt? Knapp vierzig. Kein ehrliches Glück, kein ehrlicher Stolz, aber das, was er immer wollte: Erfolg. Mit Gewalt und trauriger Liebe, drängte sich seine einst junge, liebevolle Seele nach außen und schloss langsam und besonnen die Tür,zur Premierenfeier und seiner wohl verdienten Bestätigung. Einen kleinen Moment stand er da und wunderte sich über das, was in ihm war. Er kam sich so jung vor. Es war fast wie eine Zeitreise. Er nahm die Stille auf und das Knarren der geliebten Bretter, die auch jetzt nichts von ihrer Fürsorglichkeit verloren hatten. Sie waren damals auch da gewesen, an dem Tag, an dem er sich entschied. Liebe oder Selbst. Mittlerweile war ihm klar, dass man sich für wahre, ehrliche Liebe ein Stück aufgeben musste. Es war aber nichts schlechtes, es war wie eine Investition in Glückseligkeit, die ehrlich und bedingungslos geschehen musste. Mit der Feststellung, die er immer schon getätigt hatte, seit seinem ersten Mädchen, dass man sich für Liebe ein Stück aufgeben musste, war es unrein und nicht mehr geeignet für wahre Liebe, die Aufgabe, die Ahnung. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, alles wäre so wie damals: die Premiere, die Feier hinter der Bühne, der Abschluss, die Bretter, die Stille… Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass sie nicht mehr da war. Alles was ihn einen Augenblick jung gehalten hatte, seine Seele zufrieden stimmte und ausatmen ließ, war die Erinnerung an sie. Hätte er sich damals umgedreht, würde sie da stehen. Lächeln im Dunkel des ausklingenden Stückes. Sie hätte ein buntes Blumenkleid und keine Schuhe an. Dann würde sie langsam, mit einer Narzisse und diesem wunderbaren liebenden Lächeln auf ihn zukommen und er wäre für einen Augenblick der glücklichste Mensch auf der Welt. Wenn 15 Jahre nicht vergangen wären, würde sie hier vor ihm stehen, ihm diese Blume geben (die nun wirklich nichts für alles konnte, ihr Kind für diesen Moment gegeben hatte als Investition in die Glückseligkeit) und ihm ins Ohr flüstern, dass sie ihn liebe und heiraten möchte. Wie ein Messer drehte sich die Erinnerung an seine Reaktion in seinem Herzen um. Ihm begannen unweigerlich alle Tränen der letzten Jahre über die Wangen zu laufen. Einen kurzen Moment dachte er daran, wie unangenehm es ihm wäre, wenn einer seiner Kollegen ihn jetzt hier, SO, finden würde. Es wäre egal. Er sank auf die Knie, legte den Kopf auf seine Bretter, die ihn liebevoll und ehrlich umarmten und weinte. Er hatte ihr gesagt, es sei sein Moment und warum sie nie an ihn denken würde. Warum sie den Abend und alles was mit dem Schauspiel zu tun hatte, mit sich messen müsse. Sie war verletzt und weinte. Er war wütend gewesen, so wütend wie noch nie in seinem Leben. Er fühlte damals so glaubwürdig, dass sie diesen Moment in dem er der glücklichste Mensch der Welt war, für ihre Bindung an ihn, seine an sie, ausnutze. Und dafür hasste er sie einen kurzen Moment, der reichte um sich auf einen Weg zu begeben, den er nie wieder verlassen können würde. Aber nun, in der Gegenwart, so viele Jahre später, fühlte er nichts mehr von der Wut, nichts war da, nur noch Liebe und Schmerz. Der grausame Schmerz unerfüllbarer Sehnsucht. Er hatte das wahrhaftige Bedürfnis von den Brettern, die bei jedem Krampf den er in sich spürte, der immer mehr Tränen herausdrückte, ein leises Knarren von sich gaben, das sich wie ein Bedauern seiner Situation anhörte, in den Arm genommen zu werden. Es war vorbei. Sein Leben.